Time-out-Tagung vom 12.-14.November 2021 in Würzburg Opfer ohne Täter? Die Lust an der (Selbst)Viktimisierung

Beinahe wäre die Tagung ins Wasser gefallen! Wenige Tage zuvor war die Referentin Dr. Ulrike Ackermann, Professorin am John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung in Heidelberg, erkrankt und musste ihre Teilnahme absagen. Kurz entschlossen sprang Dr. Reinhold Münster, Literaturwissenschaftler und Soziologe und Mitglied der EA, ein und verhalf den rund 20 Teilnehmern zu drei spannenden Tagen mit viel Information und lebhaften Diskussionen. Typisch EA – wir wissen uns zu helfen! Hier einige persönliche Eindrücke:

Die Klagen über unsere gespaltene Gesellschaft sind allgegenwärtig. Doch was spaltet sie eigentlich? Es ist ein Kennzeichen der Moderne, dass sie immer stärkere Differenzierungen in der Gesellschaft vornimmt. Sprach man vor 50 Jahren von Klassen und Schichten, sind es heute die Milieus und Lebensstile, die die gesellschaftlichen Debatten bestimmen. Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Der Primat der Ökonomie („Arbeiterklasse“, Mittelschicht“) ist dem Primat der Kultur gewichen (die Milieus der Selbstoptimierer, der Hedonisten, das Selbstverwirklichungsmilieu etc.), die Gesellschaft verästelt sich immer stärker, wobei die einzelnen Milieus eigene „Identitäten“ ausbilden bzw. postulieren und teils lautstark die Anerkennung ihrer Partikularinteressen einfordern. Das hat Einfluß auf die öffentliche Debattenkultur: Sie wird einerseits rauer, (Beleidigungen und Drohungen gegenüber Andersdenkenden in den sozialen Netzwerken, Verbot von missliebigen, weil nicht gesinnungskonformen Veranstaltungen durch einzelne lautstarke Gruppen auch an Hochschulen…), andererseits wird sie vorsichtiger und ängstlicher, um niemanden „auf die Füße zu treten“, da alle kulturellen Äußerungen grundsätzlich als gleichwertig zu behandeln seien und keiner Bewertung unterliegen dürften. Das solle sich auch in der Sprache widerspiegeln, als „Political Correctness“ (PC). Wer nicht „korrekt“ spreche und schreibe, z.B. in der Auseinandersetzung um den Gender-Asterisk, erzeuge also notwendigerweise „Opfer“, denn Sprechen schaffe nach der Logik der PC eine Wirklichkeit. Zugrunde liegt die Sprachtheorie der „Performativen Sprechakte“ („Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau“ schafft eine rechtlich wirksame Wirklichkeit – wobei aber übersehen wird, dass Kommunikation wesentlich mehr beinhaltet als nur das performative Sprechen – das ist eher die Ausnahme!). Diese sprachphilosophische Annahme darf aber nicht hinterfragt werden – obwohl sie dringend hinterfragt werden muss! Denn in Folge davon werden immer mehr Opfergruppen ausgemacht, über die nicht „korrekt“ gesprochen werde und die dadurch unsichtbar gemacht, diskriminiert und beleidigt würden: Frauen, Schwarze, Schwule und Lesben, Diverse, Juden, Muslime, Behinderte etc.

Sich vor diese milieudefinierten Opfergruppen zu stellen, um sie (vor allem sprachlich)„sichtbar zu machen“, ist zum Thema eines „Neuen Moralismus“ geworden, der „Wakeness“ einfordert, also Wachheit gegenüber angeblich diskriminierender Sprache (siehe der Streit um die Mohrenapotheken) – was von anderen Teilnehmern der Debattenkultur allerdings als „Cancel Culture“ erlebt und erlitten wird, etwa wenn Lehrenden an der Universität das Recht auf Freiheit der Lehre aberkannt wird, wenn sie sich nicht einer gewissen „Gesinnung“ wie etwa dem Postkolonialismus verpflichtet fühlen. Prof. Ulrike Ackermann hat viele solcher Fälle dokumentiert und ein Netzwerk von Betroffenen ins Leben gerufen.

An diesem Punkt berühren sich die Identitätspolitiken von rechts und links. Eine Problemanzeige für die Demokratie! Denn von beiden Seiten wächst der Moralisierungsdruck mit Denkverboten und Polarisierungen in ein manichäisches Gut-Böse-Schema: Gut ist, was sich gefühlter Diskriminierung entgegenstellt, wobei Gefühl oft an die Stelle rationaler Argumentation tritt. Auf der letzten Frankfurter Buchmesse sollten auf Wunsch einiger Autorinnen Verlage ausgeschlossen werden, von denen sie sich bedroht „fühlten“.

Die Opferdefinitionen werden immer zahlreicher und verlaufen quer durch die Gesellschaft, betreffen alle Bereiche, z.B. auch die Kunst – man denke an die erzwungene Entfernung des Gomringer-Gedichts an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin, initiiert von Frauen, die sich dadurch gekränkt fühlten. Aber gerade die Kunst braucht den liberalen Rahmen einer Demokratie! Wenn eine „politisch korrekte“ Gesinnung wichtiger wird als die Freiheit von Rede, Kunst, Forschung und Lehre, steht es schlecht um diesen Rahmen.

Eine weitere Problemanzeige: Die Identitätspolitik von beiden Seiten fordert Rechte für konstruierte Kollektive ein (die Schwarzen, die Diversen, die Deutschen), nicht für Individuen, wie das die Menschenrechte tun. Das heißt, die „Identität“ der jeweiligen Gruppe muss „rein“ erhalten werden, es müssen „safe spaces“, sichere Räume geschaffen werden, wo man möglichst nicht mit dem Anderen und Störenden in Berührung kommt – schon jetzt ein Problem für manches Seminar an der Universität.

Angesichts dieser Befunde stellen sich viele Fragen: Wer darf über was und über wen sprechen und wer bestimmt das? Und sind Sprechverbote durch einzelne Gruppen demokratisch zu legitimieren? Sind die gefühlten „Mikroaggressionen“ (etwa Blondinenwitze), wo der Empfänger über die Interpretation der Botschaft entscheidet, nicht eher ein Zeichen für die zunehmende Infantilisierung einer Gesellschaft als für ein „waches“ Gerechtigkeitsbewusstsein? Und wie weit darf die Reinhaltung von Identitäten gehen? Darf J.S. Bach als Manifestation kolonialer Musik künftig nicht mehr in Afrika aufgeführt werden? Und wie steht es mit Reggae und Blues in Deutschland – ist das als „kulturelle Aneignung“ bald verboten? Und nicht zuletzt: die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – ist sie lediglich eine europäische Erfindung und damit Ausdruck des Kolonialismus, die für andere Kulturen keine Bedeutung hat?

Wie kommen wir aus diesem Dilemma heraus? Indem wieder eine Umkehr vom Primat der Kultur zum Politischen vollzogen wird, denn Politik und nicht korrekte Gesinnung schafft gesellschaftliche Gerechtigkeit. Schlecht bezahlte Tätigkeiten müssen besser bezahlt und nicht lediglich gendergerecht ausgeschrieben werden! Und indem die demokratische Aufklärung (und das heißt auch: Aufklärung des Politischen über sich selbst) nicht länger als kolonial, rassistisch, patriarchal etc. verunglimpft wird.

Es gibt noch viel zu diskutieren, viel nachzudenken und auch noch viel zu streiten – aber auch viel zu hoffen! Dank an den Referenten und sein spontanes Einspringen, und an alle, die dabei waren – bis zum nächsten Mal!

Elke Münster.

 

Zum Weiterlesen: Ulrike Ackermann: „Das Schweigen der Mitte. Wege aus der Polarisierungsfalle“, wbg 2020.